3.

»… Armut ist das Schlimmste, schlimmer als Tod, schlimmer als …«

Er nickte. »So denk’ ich auch, Ursel. Nur nicht arm. Aber komm in den Garten! Die Wände haben hier Ohren.«

Und so gingen sie hinaus. Draußen aber nahm sie seinen Arm, hing sich, wie zärtlich, an ihn und plauderte, während sie den Mittelsteig des Gartens auf und ab schritten. Er seinerseits schwieg und überlegte, bis er mit einem Male stehenblieb und, das Wort nehmend, auf die wieder zugeschüttete Stelle neben dem Birnbaum wies. Und nun wurden Ursels Augen immer größer, als er rasch und lebhaft alles, was geschehen müsse, herzuzählen und auseinanderzusetzen begann.

»Es geht nicht. Schlag es dir aus dem Sinn. Es ist nichts so fein gesponnen …«

Er aber ließ nicht ab, und endlich sah man, daß er ihren Widerstand besiegt hatte. Sie nickte, schwieg, und beide gingen auf das Haus zu.

(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

 

 

Zum Lebensstil von Siegfried Schulz gehörte es, zweimal in der Woche Golf zu spielen. Meist tat er das am Ufer des Scharmützelsees, wo er ein Sommerhaus besaß, diesmal aber zog er mit Herbert, einem neuen Berliner Freund, auf dem Stolper Platz von Loch zu Loch, und da man auf dessen letztem Grün das Panoramabild Frohnaus vor Augen hatte, kam man schnell auf seinen ›Neffen über x-Ecken‹ zu sprechen.

»Ist das der mit dem Restaurant an der S-Bahn?«, fragte der Freund.

Schulz nickte. »Ja. Das ist alles mein Geld, was du da siehst. Nur die Idee ist von ihm – immer à la world-carte essen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ’ne Goldgrube ist«, sagte Herbert, der Rechtsanwalt war. »Warum hast du das eigentlich gemacht?«

»Gott, sein Vater, der Walter Wiederschein, und mein Vater sind Cousins gewesen, und als ich von Wiederscheins finanziellen Problemen gehört habe, bin ich sofort in die Bresche gesprungen. Familie ist alles.«

Schulz, der aus Prinzip jede Art von Belletristik verabscheute, wusste nicht, dass dieser Ausspruch aus der Welt der Mafia kam und in Mario Puzos Roman ›Der Pate‹ öfter wiederholt wurde.

Golf zu spielen gehörte zum Geschäft, und die Bewegung an der frischen Luft war ihm vom Arzt verordnet worden, aber eigentlich hasste Schulz diesen sogenannten Sport. Zum einen erschien es ihm höchst albern, so wie wenn Erwachsene Murmeln spielten, und zum anderen ärgerte er sich darüber, dass er nicht in der Lage war, dem Ball seinen Willen aufzuzwingen. Mit einem Handicap von 100 war er gewiss kein schlechter Spieler, aber dennoch landeten seine Abschläge oft genug im ›rough‹ oder er verfehlte beim ›put‹ vom Rande des Grüns das Loch um mehrere Meter.

Sie erreichten das Grün in der Nähe des naturbelassenen Weges, der vom Frohnauer Friedhof an der Hainbuchenstraße schnurgerade nach Stolpe führte und von uralten Bäumen gesäumt wurde. Ein Radfahrer hielt, sprang ab und näherte sich dem Zaun.

»Herr Schulz! Onkel Siegfried!«

Schulz hasste Leute, die ihm beim Golfspielen zusehen wollten, brummte immer etwas von Packzeug und Proleten und sah nicht auf, wenn sie dastanden und gafften, aber eben war sein Name gerufen worden und die Stimme war ihm bekannt vorgekommen.

»Mensch, das ist doch mein Neffe!«

»Dieser Wiederschein vom ›à la world-carte‹?«

»Ja. Wenn man vom Teufel spricht …«

Schulz überlegte einen Augenblick, dann entschloss er sich, zum Zaun zu gehen und ein paar Worte mit Wiederschein junior zu wechseln. Herbert trottete hinter ihm her.

Sie begrüßten sich, und Schulz sprach vom reinen Zufall, der sie hier zusammengeführt habe.

Wiederschein bestritt das. »So rein ist der nun auch wieder nicht, denn ich komme in der Woche mehrmals hier am Golfplatz vorbei und halte immer Ausschau nach dir, aber du spielst wohl immer in Bad Saarow.«

Schulz lachte. »Du bist ja bestens informiert, was mich betrifft. Und wie geht’s selbst?«

»Danke der Nachfrage …«

»Kommen denn überhaupt noch Gäste?«, fragte Schulz und wurde dann bösartig. »Ich höre von meinen Freunden immer wieder, dass sie bei dir nicht reingehen, weil da so ein komischer Name über der Tür steht. So ein Quatsch: à la world-carte. Nicht richtig Englisch, nicht richtig Französisch. Und das Essen schmeckt immer deutsch, egal ob du chinesisch, griechisch oder vietnamesisch kochst.«

Das war so viel Gift, das auf Wiederschein deutlich Wirkung hatte. Es war ihm anzusehen, wie sehr er litt.

»Komm du doch mal vorbei!«, stieß er hervor. »Und sieh dir alles an und koste alles mal.«

Schulz lachte. »Aber nur wenn ich mir einen … wie hieß das bei den alten Römern …?«

»Vorkoster«, half ihm Herbert aus.

»Ja, danke … Wenn ich mir einen Vorkoster mitbringen kann. Na, vielleicht reicht es auch wenn ich die Telefonnummer der Notrufzentrale auswendig lerne … Bei Vergiftungen.«

Wiederschein gelang es, im selben Ton zu antworten. »Woher weißt du, dass ich unseren Gästen immer was ins Essen tue, damit sie nicht nach Hause können, sondern bei mir im Gästehaus übernachten müssen? Anders kriegt man ja seine Betten nicht voll.«

»Der Pferdestall ist jetzt fertig umgebaut?«, fragte Schulz.

»Ja, du kannst gerne kommen. Dich mal von Sandra erholen …«

»Gute Idee.« Schulz sagte zu. »Nächsten Donnerstag. Freitag muss ich morgens ganz früh nach Rostock hoch und brauche so nicht erst von Wannsee durch die ganze Stadt durch.«

Außerdem konnte er dann Wiederschein und Angela so richtig fertigmachen. Vielleicht war es wieder einmal an der Zeit, an eine Vorgehensweise à la OUT zu denken. Das war seine Lieblingsstrategie, meinte ›Oma und Treppe‹, und ging auf einen alten Witz zurück: Fritzchen stößt seine Oma die Treppe runter und ruft dabei: ›Oma, was rennst denn so?‹ Gern hatten sie als Kinder auch Strippen an die Stühle gebunden und die dann ruckartig nach hinten weggezogen, wenn die Erwachsenen gerade Platz nehmen wollten. Schon im Kindergarten hatte es für ihn keine größere Freude gegeben, als andere Menschen zu ärgern, bloßzustellen und hereinzulegen. Nie machten sie dümmere Gesichter. Das ging meistens nach demselben Muster: Kommen zwei Matrosen aus dem Puff und lachen die Nutten aus: ›Die Dollars, die wir euch gegeben haben, sind falsch!‹ – Antwort: ›Dafür ist der Tripper echt, den wir euch angehängt haben.‹ Das gefiel ihm, das hatte ihn geprägt.

Nach dem Golf fuhr er in die Firma, das heißt, zur Zentrale am Sachsendamm. Er wusste, dass jetzt überall in den Büros die Alarmglocken schrillten und das große Zittern begann. Man hatte Wachtposten an den Fenstern stehen, die seine Ankunft meldeten. ›Stalin kommt!‹ Dieser Vergleich freute ihn. In Zeiten von Millionen Arbeitslosen konnte er seine Leute wie in einem Straflager halten. Zudem wurden alle, die seine Herrschaft stützten, reich belohnt und verdienten wesentlich mehr als anderswo.

Da er wusste, dass zwei Dutzend Augenpaare an ihm hingen, inszenierte er das Aussteigen aus seinem Porsche als große Show. Obwohl die Sonne schien und er nur 20 Meter zu laufen hatte, schlüpfte er in seinen Staubmantel. Dies, seit er ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ im Kino gesehen und sich tüchtig mit den Männern auf der Leinwand identifiziert hatte. Danach setzte er seinen Borsalino auf. Dieser Hut war sein eigentliches Markenzeichen. Im Herbst und Winter bevorzugte er den schwarzen Klassiker, im Frühjahr und Sommer durfte es auch der beigefarbene Borsalino Panama Traveller sein. Er fühlte sich in diesem Outfit als Mafiapate, obwohl er von den meisten nur für einen Filmfritzen gehalten wurde, einen Regisseur oder Produzenten, bestenfalls für einen Theaterintendanten. Aber Stil hatte es auf alle Fälle und machte mächtigen Eindruck auf seine Leute.

Zu seinen ganz besonderen Lieblingen gehörte Thorsten Rönnefahrt, der Leiter seiner EDV. Rönnefahrt kannte alles, was es in der Computerbranche an Tricks und Geheimnissen gab, und war privat Vorsitzender eines Hackerklubs. Ein fehlendes Passwort oder die neueste Firewall waren kein Problem für ihn; er konnte mühelos auf die Festplatte eines anderen Computers vordringen.

Schulz wartete, bis sie allein waren. »Na, sind Sie fündig geworden?«

»Was Ihre Frau betrifft oder was Körner angeht?«

»Zuerst Körner.« Körner war Meister in der Werkstatt und versuchte, einen Betriebsrat zu gründen.

Rönnefahrt zauberte mit ein paar Mausklicks ein Dossier über Körner auf den Bildschirm. »Hier … Er hat in den Wagen eines Freundes einen nagelneuen Motor eingebaut, ihm aber nur einen aufgearbeiteten alten Motor in Rechnung gestellt.«

»Prima, das ist ein Grund, ihn zu feuern.« Schulz freute sich. »Und meine Frau?«

»Da haben wir dieses …« Rönnefahrt reichte ihm ein paar Blätter hinüber. »Alles, was Ihre Frau in den letzten beiden Wochen an E-Mails bekommen und abgeschickt hat.«

»Danke, mein Lieber!«

Schulz zog sich in sein Büro zurück und machte sich daran, Sandras elektronische Korrespondenz zu überprüfen. Nach zwei Minuten sah er nicht nur seinen Verdacht bestätigt, dass seine Frau einen Liebhaber hatte, sondern kannte auch dessen Namen: Karsten Klütz. Dass sich Sandra ausgerechnet dieses Arschloch ausgesucht hatte! Wahrscheinlich war er im Bett ebenso mittelmäßig wie auf dem Spielfeld. Aber Fakt war, dass sie ihn mit diesem Blödmann betrog.

Schulz überlegte. Er hatte das Geld, sich einen Killer zu kaufen und Klütz abknallen zu lassen, doch da wäre er im Nu Tatverdächtiger Nummer eins gewesen, und der dümmste Kommissar hätte ihn überführt. Außerdem war man von den Hintermännern des Killers jederzeit erpressbar. Nein, da musste subtiler vorgegangen werden.

Schulz verstand einiges vom Fußball, war schon öfter als Sponsor in Erscheinung getreten und hatte immer die neuesten Fachblätter auf dem Schreibtisch liegen. Er glaubte, sich daran erinnern zu können, dass Klütz zu Berlin United gegangen war, und das stimmte auch. Sein Plan war schnell gefasst, er musste sich nur beeilen, denn die Saison ging langsam zu Ende. Zwei Spiele hatte United noch auszutragen, das letzte im Norden Berlins, wo er den Verein ganz gut kannte. Er schlug die Fußball-Woche auf und sah sich die Mannschaftsaufstellung an. Wen kannte er da, wer war vom Charakter her Schwein genug, sich auf seinen Vorschlag einzulassen …? Ah, ja: Marco Kurzrock. Von dem wusste er, dass er halbtags bei Getränke-Krause arbeitete. Er fuhr hin und passte Kurzrock ab, als der früh Feierabend machte, um rechtzeitig auf dem Trainingsplatz zu sein.

»Ich weiß, Marco, dass du immer viel Geld brauchst«, begann Schulz ihren kleinen Dialog. »Und ich weiß auch, wie du schnell zu … sagen wir… 5.000 Mark kommen kannst.«

Marco Kurzrock grinste. »10.000.«

»Meinetwegen.«

»Was soll ich tun, Chef?«

»Ihr spielt doch in 14 Tagen gegen Berlin United, und du musst nichts weiter machen, als so unglücklich mit Karsten Klütz zusammenzuprallen, dass der sich möglichst viele Knochen bricht und für ein paar Wochen ins Krankenhaus kommt.«

»Und wenn ich dafür die Rote Karte bekomme und für fünf Spiele gesperrt werde?«

»Dann gibt es noch 5.000 Mark dazu. Ebenso, wenn du ihm so kräftig in die Eier trittst, dass er das ganze Jahr über keinen mehr hochkriegt. Hier sind 5.000 als Anzahlung.«

 

*

 

Angela Wiederschein zog durch alle halbwegs exquisiten Geschäfte am Maximiliankorso, an der Welfenallee und an den beiden Frohnauer Plätzen, dem Ludolfinger und dem Zeltinger, und kaufte ein, was gut und teuer war. Und nirgendwo ließ sie unerwähnt, dass sie von einem Onkel in Bremen einiges geerbt habe. Bis jetzt habe man jeden Pfenning in das Restaurant gesteckt, nun könne man sich endlich etwas leisten.

Dies gehörte zu Wiederscheins Plan, den sie jederzeit wörtlich wiedergeben konnte.

»Wenn Schulz zu uns kommt und im Gästehaus übernachtet, dringe ich in sein Zimmer ein und ersticke ihn mit einem Kissen. Keine Pistole, kein Messer, kein Baseballschläger – nichts, was man verschwinden lassen muss und was uns verraten könnte. Ich schaffe die Leiche beiseite und bringe dir seinen Anzug und seinen Hut. Du rollst dann in aller Herrgottsfrühe als Siegfried Schulz aus der Garage, wozu warst du mal Schauspielerin, und machst so viel Lärm, dass dich möglichst viele sehen. Ich werde am Gartentor stehen und meinem Onkel Siegfried hinterherwinken. Du fährst ein paar Kilometer Richtung Norden, er wollte ja nach Rostock, und versenkst seinen Wagen kurz hinter Oranienburg in den Oder-Havel-Kanal. Anschließend verwandelst du dich in die Angela Wiederschein zurück, entsorgst seine Kleidungsstücke irgendwo in einem Müllcontainer, bis auf den Borsalino, und kommst mit der S-Bahn nach Frohnau zurück. Es ist der perfekte Mord.«

Sie hatte keinerlei Skrupel. Die Menschheit von einem Ekel wie Schulz zu befreien, war eine gute Tat. Außerdem waren sie und das ›à la world-carte‹ gerettet, denn sie erbten zwar nichts von dem Vermögen, das Schulz hinterlassen würde, aber sie waren auf einen Schlag alle ihre Schulden los, und das war eine sechsstellige Summe, denn Schulz hatte nichts Schriftliches hinterlassen und sich keinen Schuldschein ausstellen lassen. Wahrscheinlich stammte das Geld, das er ihnen geliehen hatte, aus krummen Geschäften, und er benutzte das ›à la world-carte‹, es zu waschen. Außerdem würde er einige 1.000 bis 10.000 Mark bei sich haben, und die konnten sie gut gebrauchen.

Angela Wiederschein sah den Plan ihres Mannes als Drehbuch und sich als Schauspielerin, dies als Folge einer gewissen ›déformation professionelle‹.

Pfarrer Eckel kam ihr entgegen und grinste. »Na, Frau Wiederschein, wieder mal im Kaufrausch?«

Sie musste kurz husten. Fast wäre ihr herausgerutscht, dass sie ausgezogen war, um den Leuten eine ganz bestimmte Botschaft zu vermitteln, nämlich: Die Wiederscheins, die haben es so dicke, dass sie es gar nicht nötig haben, einen Menschen umzubringen. Nach ein paar Sekunden versuchte sie zu lachen. »Ich sichere nur Arbeitsplätze. Aber es macht Spaß, Geld zu haben und es ausgeben zu können.«

Pfarrer Eckel wurde soziologisch. »Ach ja, Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus … Das gilt ja alles nicht mehr, dass man asketisch lebt – auch keine Fleischeslust – und nichts ausgibt, sondern seinen Besitz erhält und durch rastlose Arbeit mehrt – und damit Gott gefällig lebt.«

 

*

 

Karsten Klütz verdiente auch als Amateur bei Berlin United mehr als der berühmte kleine Mann auf der Straße, dafür sorgte schon der Sponsor, der seinen Verein unbedingt in der Zweiten Bundesliga haben wollte, aber dennoch fühlte sich Klütz als Arbeitsloser. Am späten Nachmittag wurde trainiert, aber bis dahin war der Tag öd und leer. Klütz las nicht gern, er joggte nicht gern, er surfte nicht gern im Internet, und das Fernsehen langweilte ihn meistens zu Tode. Wenn sie nicht gerade Fußball zeigten, aber sie zeigten nicht immer Fußball. Was ihn zudem depressiv stimmte, war die Tatsache, dass er nirgends richtig vorankam, nicht mit dem Grundstück irgendwo am Rande der Stadt, nicht mit der Gründung seiner Agentur für Spielervermittlung, nicht in seiner Beziehung mit Sandra. Sie konnte nicht loslassen, auch wenn Schulz sie täglich übler beschimpfte und ihr sonst was androhte.

Klütz hatte eine kleine Wohnung in Friedenau gemietet, in der Stubenrauchstraße, und wenn er aus dem Fenster sah, blickte er auf einen Friedhof. Ein gutes Omen war das nicht.

Seine Stimmung hätte nicht mieser sein können, als sein Makler anrief.

»Herr Klütz, ich habe da ein Schnäppchen für Sie. Ein großes Grundstück mit einem wunderschönen Neubau in Friedenau …«

»Was, bei mir hier?«

»Wie …?« Der Makler war verwirrt. »Wohnen Sie in Frohnau?«

»Nein, in Friedenau. Sie haben eben Friedenau gesagt.«

»Ach, Gott, Entschuldigung, ich bringe die beiden Ortsteile immer durcheinander.« Der Makler schien sehr gehetzt zu sein. »Frohnau also … Der Eigentümer hat gerade angefangen zu bauen, ein hübsches Haus, nicht zu groß und nicht zu klein, letzte Woche war Richtfest … Nun muss er aber beruflich weg von Berlin und will alles so schnell wie möglich loswerden. Das wäre Ihre große Chance.«

Klütz zögerte nicht lange. Frohnau hörte sich nicht schlecht an, und da Rebecca mit den Kindern nach Tegel gezogen war, hatte er es nicht weit, wenn er Leon und Leonie sehen wollte. »Okay, ich komme. Wann und wo treffen wir uns?«

»Geht das bei Ihnen: In einer Stunde auf der Frohnauer Brücke?«

»Ja, das schaffe ich locker.«

Klütz freute sich, dass die Dinge endlich ins Rollen kamen. Vielleicht konnte er Sandra damit locken, dass sie im neuen Haus viel Platz für ihren Modekram haben würde. Schnell überschlug er mithilfe seines Taschenrechners, wie viel Geld er für das Grundstück in Frohnau zur Verfügung haben würde, und war zufrieden. Auch nach der Scheidung reichte es, ohne dass er groß Kredite aufnehmen musste.

In Aufbruchsstimmung setzte er sich in seinen BMW, um nach Frohnau zu fahren.

 

*

 

»Wir sind traurig, Herr, denn wir müssen für immer Abschied nehmen von einem Menschen, der uns so vertraut war wie niemand sonst. Mit seinem Tod, mit dem Tod von Justus Abbenfleth, geben wir auch einen Teil von uns selbst dahin. Und dennoch wollen wir nicht nur auf all das blicken, was der Tod uns nahm, sondern wollen auch dankbar erkennen, was du, Herr, uns durch den Verstorbenen gabst – an Fürsorge, Liebe, Trost, vor allem aber an Lachen und an Lebensfreude und an Erkenntnis über das Sosein der Welt. Herr, lass uns all dies gerade in diesen Minuten und Stunden nicht vergessen …«

Bei diesen Worten konnte Angela Wiederschein ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie saß in der Kapelle des Osterholzer Friedhofes und war nach Bremen gekommen, um Abschied von ihrem Onkel zu nehmen, einem höchst mittelmäßigen Schauspieler, der aber ihren Lebensweg bestimmt hatte wie kein Zweiter. Durch ihn war sie zum Theater und zum Film gekommen und hatte geglaubt, das Größte im Leben sei es, auf der Straße erkannt und um ein Autogramm gebeten zu werden. Er hatte in ihr das wachgerufen, was ihr Therapeut später narzisstische Bedürftigkeit und narzisstische Unersättlichkeit nennen sollte. Angela wurde krank, wenn sie nicht mindestens jede Woche einmal auf dem Bildschirm erschien oder von den Illustrierten und Gazetten mit einer Homestory bedacht wurde. Und nicht nur das: Wurden andere erwähnt und hochgejubelt, war das für sie ein Schlag ins Gesicht, und sie verfiel in starke Depressionen. Das hatte sie fast umgebracht, und wenn sie nicht auf Wiederschein gestoßen wäre, hätte sie sicher Selbstmord begangen.

»Der Tod von Justus Abbenfleth hat uns alle tief erschüttert«, fuhr der Pfarrer fort. »Absurd war er, bizarr, stirbt doch da ein Schauspieler während der Dreharbeiten, als er einen Manager spielt, der in einem Luxusrestaurant an einem Fleischbrocken ersticken soll, bei laufender Kamera wirklich an einem Fleischbrocken, der ihm in die Luftröhre gerät und dort stecken bleibt. Ja, meine verehrte Trauergemeinde, wie steht es im Römer 11,13: Wie unerforschlich sind doch Gottes Wege!«

Angela Wiederschein zuckte zusammen, als sie dies hörte. Denn hätte ihr Gatte nicht die Gebeine des 1945 getöteten Soldaten im Garten gefunden und wäre nicht ihr Onkel in Bremen gestorben, sodass man die Nachricht vom reichen Erbe verbreiten konnte, dann hätte es den Plan nicht gegeben, Siegfried Schulz mit einem perfekten Mord aus der Welt zu schaffen.

Dass ihr Justus Abbenfleth nur lumpige 5.000 Mark vererbt hatte, erfuhr sie später, als man sich nach dem obligatorischen Leichenschmaus bei ihrer Cousine Susanne oben in Vegesack versammelt hatte.

Susanne, die Tochter des Verstorbenen, hatte unter ihrem Vater zu sehr gelitten, als dass sie dessen Tod übermäßig betrübt hätte. So war ihr Ton nicht anders als bei jedem beliebigen Klönschnack.

»Dass er dir 5.000 Mark vermacht hat, zeugt davon, dass er dich wirklich geliebt hat«, sagte sie zu Angela Wiederschein. »Geizig, wie er war. Aber du hast es wenigstens versucht, Schauspielerin zu werden, während ich es nur zur Volljuristin gebracht habe. Uns Paragrafenheinis hat er ja allesamt gehasst. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich nur Jura studiert, um ihn zu ärgern, viel lieber wäre ich Kunsthistorikerin geworden und später ins Museum gegangen.«

»Ja, wie unerforschlich sind Gottes Wege«, wiederholte Angela Wiederschein.

»Das kannst du dick unterstreichen. Wer hätte damals in Ohio gedacht, dass du einmal Gastwirtin würdest.«

»Wer nichts wird, wird Wirt – weißt du doch«, sagte Angela Wiederschein, und sie sprachen noch ein Weilchen über die Zeit, als sie für ein Jahr in den USA zur Schule gegangen waren, um perfekt Englisch zu lernen. »Ja, unsere Träume damals …« Fast hätte sie noch hinzugefügt, dass sie damals davon geträumt hatte, Mr. Willows umzubringen, einen besonders verhassten Lehrer, und dass sie nun dabei war, wirklich jemanden zu ermorden.

 

*

 

Siegfried Schulz betonte ständig, ein Mann der schnellen Entscheidung zu sein, doch mit der Frage, ob er wirklich zu seinem Neffen nach Frohnau fahren und dort übernachten sollte oder lieber nicht, tat er sich schwer. Denn es war zu befürchten, dass Sandra die Chance nutzen und dieses Arschloch von Klütz zu sich nach Hause holen würde. Der Gedanke, dass sie es in seinem Bett miteinander trieben, war unerträglich für ihn. Wenn die Zeiten anders gewesen wären, hätte er Sandra einen Keuschheitsgürtel umgeschnallt. Aber der hätte sie auch nicht daran gehindert, ihm einen zu blasen.

Sandra selbst war es, die zur Problemlösung beitrug, als sie ihn anrief und ihm sagte, sie müsse Donnerstagmorgen für ein paar Tage nach Mailand fliegen, weil ihr ein dortiger Modemacher einen Kooperationsvertrag angeboten habe und sie sich eine solche Chance nicht entgehen lassen könne.

»Mailand, sehr schön, da komme ich gern mit!«, rief Schulz, obwohl er nicht im Traum daran dachte, nach Italien zu fliegen. »Da gibt es bestimmt ein Spiel mit Inter oder dem AC

»Ich fahre allein mit meinem Team.«

Fast hätte Schulz gefragt, ob auch Klütz zu ihrem Team gehöre, doch der musste ja am Sonnabend Fußball spielen und darauf warten, von Marco Kurzrock gefoult zu werden. Kam Sandra aus Mailand zurück, konnte sie vom Flughafen gleich ins Krankenhaus fahren. Das amüsierte ihn so sehr, dass er an sich halten musste, um nicht laut loszulachen.

So fuhr er gegen 19 Uhr in Frohnau vor, betrat mit wehendem Staubmantel und seinem Borsalino auf dem Kopf das ›à la world-carte‹ und inszenierte sich als der eigentliche Besitzer des Restaurants. Das begann damit, dass er das ›Reserviert‹-Schild, das den schönsten Platz am Fenster zierte, vom Tisch nahm und aufs Fensterbrett stellte und dem herbeieilenden Kellner wortlos Hut und Mantel entgegenstreckte, um sie von ihm zum Kleiderständer bringen zu lassen.

Matti Kemijärvi nahm sie auch, begrüßte Schulz mit ausgesuchter Höflichkeit und wies ihn erst dann darauf hin, dass der Tisch für Stammgäste reserviert sei.

»Das interessiert mich nicht im Geringsten«, sagte Schulz und setzte sich.

»Mein Herr …!« Der Finne war fassungslos. Zwar kannte er die Berliner Devise ›Frechheit siegt!‹ schon lange, doch hier in Frohnau benahmen sich die Gäste in aller Regel recht distinguiert.

Bharati kam ihm zur Hilfe, indem sie Schulz bat, doch bitte am Kamin Platz zu nehmen, da sei es viel gemütlicher.

»Wo ich es gemütlicher finde, das müssen Sie schon mir überlassen«, sagte Schulz mit erheblicher Lautstärke. »Wo bleibt die Speisekarte? Soll ich Ihnen Beine machen?« Dazu klatschte er mehrmals in die Hände.

»Moment bitte, ich hole den Chef.« Matti Kemijärvi eilte in die Küche.

Schulz ergötzte sich an der Reaktion der anderen Gäste. Sie waren ebenso erstarrt wie die Kunden einer Bankfiliale, wenn der Gangster hereinstürmte und rief: ›Hände hoch! Keiner bewegt sich!‹ Sein Verhalten war shocking, und die Frohnauer gaben sich entsprechend geschockt. Vielleicht fürchteten sie auch, er würde im nächsten Augenblick zum Amokläufer werden. Herrlich, mehr hatte er nicht erwarten können. Doch der nächste Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten. Denn Wiederschein kam aus der Küche gestürzt, um den frechen Eindringling mit ein paar harschen Worten auf die Straße zu setzen, prallte dann aber zurück, als er seinen Onkel erkannte, und sein Gesichtsausdruck wechselte in Sekundenschnelle vom Signal ›Hau ab, du Arsch!‹ auf ›Ah, du bist es …! Herzlich willkommen!‹ Schulz freute sich.

»Was führt dich denn in den hohen Norden?«, fragte ihn Wiederschein, nachdem sie sich mit Handschlag, aber ohne familiäre Umarmung begrüßt hatten.

Schulz gab sich keine große Mühe zu flüstern. »Ich habe gehört, dass dein Restaurant langsam zum Auguststall geworden ist.« Er wusste sehr wohl, dass es Augiasstall hieß, wollte sich aber daran weiden, wie Wiederschein seinen Impuls unterdrücken musste, ihn zu korrigieren.

Wiederschein schluckte und versuchte, sich dadurch aus der Affäre zu ziehen, dass er Schulz bat, doch an den Nebentisch zu kommen, wo eine Reihe illustrer Gäste auf das Essen wartete. »Du musst doch nicht allein hier sitzen … Komm, ich stell sie dir mal alle vor.«

Schulz stand auf und folgte ihm. Warum nicht? Sein liebstes Spiel war es, mit anderen Leuten beim Small Talk zusammenzusitzen, ganz harmlos zu tun und zu warten, bis die anderen ihre Deckung vernachlässigten und er einen Wirkungstreffer landen konnte.

»Darf ich die Herren mit meinem Onkel und großen Gönner bekannt machen: Siegfried Schulz. Alle werden seine Firma kennen …« Wiederschein machte das formvollendet. »Und hier haben wir der Reihe nach: Konrad Eckel, unseren Pfarrer, Werner Woytasch, unseren ehemaligen Stadtrat, Professor Arne Quaas, Hochschullehrer für Steuerrecht an der FHW, und Thomas Mietzel, unseren Rechtsanwalt. Ich wünsche den Herren gute Unterhaltung und bitte, mich zu entschuldigen: Die Küche ruft.«

Schulz ließ sich von Matti ein frisch gezapftes Bier bringen, dann lauschte er den Worten der anderen. Es ging um die Kriminalstatistik des Jahres 1997, die das Bundeskriminalamt in Wiesbaden gerade veröffentlicht hatte. Darin lag Berlin bei Schlägereien bundesweit an der Spitze und in der Verbrechenshäufigkeit an vierter Stelle.

Pfarrer Eckel fiel dazu einer der Sprüche Salomos ein: »Torheit steckt dem Knaben im Herzen; aber die Rute der Zucht wird sie fern von ihm treiben.« Damit wolle er, weiß Gott, nicht der Prügelstrafe das Wort reden, aber darauf hinweisen, dass eine Erziehung allein im Sinne des alles Verstehens und alles Verzeihens auch nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne. »Bei mir im Konfirmandenunterricht jedenfalls versuche ich, der overpermissive education einen Riegel vorzuschieben.«

Hier mischte sich Schulz zum ersten Mal ein. »Aber wer kommt denn zu Ihnen noch, Ihre Kirche ist doch nur eine Rentnersekte.« Damit hatte er seinen ersten Pfeil erfolgreich abgeschossen.

Woytasch verwies auf die gewaltigen Anstrengungen des Bezirks, die Aggressionen Jugendlicher zu minimieren beziehungsweise zu kanalisieren. »Wir gehen mit Programmen in die Schulen, in denen die Jugendlichen lernen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, und wir versuchen, sie zum Eintritt in einen unserer vielen Sportvereine zu bewegen.«

Schulz winkte ab. »Politiker …! Die denken doch bloß an ihre eigene Karriere, denen ist das Volk völlig egal.«

Woytasch war es gewohnt, angepinkelt zu werden, und lachte nur. »Das haben wir mit den Unternehmern gemeinsam.«

Rechtsanwalt Mietzel vertrat gern neoliberale Positionen. »Das Eigeninteresse ist es doch, was der Motor allen Handelns ist. Was passiert, wenn es unterdrückt wird, haben wir ja am Beispiel der DDR gesehen: Ein ganzer Staat geht in Konkurs. Wichtig ist nur, dass die Eigeninteressen durch ein hochkomplexes Rechtssystem gesteuert werden.«

»Ach!«, rief Schulz. »Das macht doch die Menschen nur zu Prozesshanseln, und Rechtsverdreher wie Sie können sich damit eine goldene Nase verdienen.«

Woytasch tat so, als ob er Parlamentspräsident wäre, und schwang eine imaginäre Glocke. »Ich bitte um Mäßigung, Herr Abgeordneter Schulzky.«

»Nur Schulz bitte, ohne ky.«

Professor Quaas nutzte die Chance, auch einmal zu Wort zu kommen, und fragte Pastor Eckel, ob dessen Irish Terrier endlich zur Zucht zugelassen worden sei.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Na, über ky und Schulzky auf die Kynologie, das ist die Wissenschaft vom Hunde. Ich habe da gerade einen Klienten, der sich einen Kampfhund hält, weil er als Discobesitzer von einer libanesischen Großfamilie bedroht wird, und diesen Kampfhund gern von der Steuer absetzen möchte.«

»Das ist ein Bekannter von mir!«, rief Schulz. »Der hat sich fürchterlich über seinen Steuerberater aufgeregt, weil der sich so dumm angestellt hat, dass eine Nachzahlung von 30.000 D-Mark fällig war.«

Jetzt kam das Essen, und Schulz zog sich an seinen Tisch zurück, nicht ohne den Herren zu verraten, dass er die Nummer der entsprechenden Notfallzentrale in seinem Handy eingespeichert habe. »Falls sich bei Ihnen Vergiftungserscheinungen zeigen sollten.«

Bharati brachte ihm wenig später eine wunderbar gegrillte Dorade und den passenden Wein dazu, doch Schulz schob den Teller nach dem ersten Bissen weit von sich und stürzte zur Garderobe, um sich mit großer Geste seinen Mantel anzuziehen und seinen Borsalino aufzusetzen.

»Danke, ich fahre jetzt zum Ludolfinger Platz. Da soll es zwei wunderbare Italiener geben. Bis nachher!«

In Wahrheit hatte er gar keinen Hunger und ging nur anderthalb Stunden spazieren. Als er im ›à la world-carte‹ zurück war, hatten sich Eckel, Woytasch, Quaas und Mietzel schon auf den Heimweg gemacht. Er sah Freddie und Gudrun hinter dem Haus stehen, wo sie in Ruhe ihre Zigarette rauchen wollten, und herrschte sie an.

»Könnte mir mal freundlicherweise einer mein Zimmer zeigen?«

»Und wer sind Sie?«, fragte Freddie.

»Wer soll ich schon groß sein?«, blaffte Schulz ihn an. »Erich Mielke natürlich. Schalten Sie nie den Fernseher ein?«

Da kam auch schon Rainer Wiederschein aus der Küche geeilt, um den Disput zu beenden. Er wies Freddie an, den Koffer ihres Ehrengastes aus dem Auto zu holen, und brachte seinen Onkel persönlich in sein Zimmer, das im Parterre des umgebauten Pferdestalls gelegen war.

Schulz schnupperte. »Riecht ja immer noch nach Pferdeäppeln. Ich empfinde es ganz schön als Beleidigung, mich hier unterzubringen.«

Wiederschein lachte. »Du sagst doch immer, dass du ein altes Schlachtross bist.«

»Nun wirst du auch noch frech!«

»Entschuldige bitte, aber das ist das feudalste Zimmer, das wir haben. Aber wenn es dir lieber ist, räumen Angela und ich unser Schlafzimmer und ziehen runter, während du …«

»Du kannst Angela ruhig oben lassen«, sagte Schulz. »Bei einigen Völkern ist das ja so üblich, dass man seinen Gästen auch seine Frau überlässt.«

»Würde ich ja, aber Angela ist heute bei ihrer Theatergruppe und kommt möglicherweise erst morgen Mittag nach Hause.«

Schulz zeigte auf Gudrun, die gerade dabei war, einen leeren Aschenbecher ins Gästehaus zu tragen. »Wenn du mir die da in’s Bett legst, will ich mein ganzes Geld zurückhaben.«

Da er gesehen hatte, wie Wiederschein bei dieser Drohung zusammengezuckt war, wiederholte er sie mehrfach, während sie am Abend im Wohnzimmer vor dem flackernden Kamin saßen und das Geschäftliche besprachen.

Schulz legte den Jahresabschluss 1997 beiseite. »Das Konzept ist falsch, mein lieber Rainer, du wirst ewig rote Zahlen schreiben. Und du kennst ja die alte Bankerregel, dass man gutes Geld nicht schlechtem Geld hinterherwerfen soll.«

»Gib mir noch diesen Sommer!«, bat ihn Wiederschein. »Bei schönem Wetter habe ich den Garten voll und verdiene ordentlich was.«

»Dein Vater hätte gesagt: Das Einzige, was du verdienst, ist eine Tracht Prügel.« Schulz erhob sich. Er war müde geworden. »Ich werde es noch einmal überschlafen, aber ich sehe eigentlich nur eine Möglichkeit: Du verkaufst hier alles, zahlst deine Schulden zurück und arbeitest als Koch in einem fremden Restaurant.«

Er erfreute sich an Wiederscheins Anblick, der dastand wie zur Salzsäule erstarrt, und machte sich auf den Weg hinüber ins Gästehaus, mit sich und der Welt zufrieden. Freddie und Gudrun standen wieder draußen und rauchten. Ihnen wie Wiederschein rief er zu, dass er wegen seines Termins in Rostock früh aufstehen müsse.

»Um 4 Uhr möchte ich geweckt werden und eine halbe Stunde später mein Frühstück haben. Um 5 Uhr muss ich weg. Gute Nacht, meine Dame, meine Herren, wünsche gut zu ruh’n.«

 

*

 

Carola Laubach lag im Bett und gab sich wieder einmal hin, nein, keinem Manne, sondern der Lektüre Friedrich Hölderlins. Seinen ›Hyperion‹ kannte sie in Teilen auswendig.

Wie ein heulender Nachtwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unsers Geistes und versengt sie im Entstehen.

Ganz Lehrerin, als wenn sie einen Aufsatz zu bewerten hätte, oder wie es neunmalkluge Studierende bei ausgeliehenen Büchern taten, schrieb sie an den Rand: »Besser kann man es nicht ausdrücken, wie die Massenmedien der christlich-abendländischen Hochkultur den Garaus machen.«

Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts.

Sie legte das schmale Hölderlin-Bändchen beiseite, schaltete ihre Nachttischlampe aus und wäre im Nu eingeschlafen, wenn sie nicht in diesem Moment wieder einmal das fürchterliche Kribbeln in den Beinen verspürt hätte. Im Liegen hielt sie es nicht mehr aus, sie musste aufstehen und durch das Haus laufen.

Vor einer Stunde war starker Regen gefallen, jetzt hatte es aufgeklart, aber ein heftiger Nordwestwind fegte über Golfplatz und Heide und traf Frohnau. Auf der Baustelle nebenan knatterten die Plastikplanen, und auf der anderen Seite bogen sich die Fichten vor dem Restaurant so sehr, dass Carola Laubach Angst hatte, die Bäume würden umknicken und das Dach ihres Hauses durchschlagen.

Gern stand sie im Dunkeln am Fenster und beobachtete die Gäste. Es war interessant, wer es sich leisten konnte, im ›à la world-carte‹ zu speisen. Die Eingangstür mit ihrem Baldachin darüber lag seitlich zu ihrem Haus hin, sodass sie sich nicht groß den Kopf verrenken musste. Aber heute hatte sie Pech, die letzten Gäste waren bereits gegangen.

Sie war enttäuscht und wollte sich gerade abwenden, da sah sie Wiederschein aus der Tür kommen. Eine Taschenlampe flammte auf. In deren Schein sah sie, dass etwas Dunkles, das er schon vorher herbeigeschafft haben musste, neben ihm lag. Sie konnte nicht erkennen, was es war, dazu waren ihre Augen zu schwach. Außerdem war es nicht hell genug. Auf alle Fälle spähte Wiederschein in ihre Richtung. Sie fuhr in ihr Zimmer zurück und zog den Vorhang zu. So verharrte sie einige Minuten. Als sie sich wieder ans Fenster wagte, sah sie Wiederschein unter seinem Kirschbaum graben. Der Mond war durch die jagenden Wolken gebrochen und tat ihr für einen Augenblick den Gefallen, die Szene auszuleuchten. Wiederschein grub eifrig und mit sichtlicher Hast und hatte bereits eine Menge Erde neben sich aufgeworfen, als er mit einem Male das Graben aufgab und sich auf’s Neue nach allen Seiten hin umsah. Aber auch jetzt wieder, so wenigstens schien es ihr, mehr in Spannung als in Angst und Sorge.

»Was hat er nur?«, fragte sie sich.

 

*

 

Wiederschein musste sich vor seinem Gewissen rechtfertigen, und das war das Wichtigste, wollte er die Tat wirklich begehen. Zum einen war es reine Notwehr, Schulz zu ermorden, er oder wir, sagte er sich, und zum anderen konnte man allen Menschen, die er jahrelang gequält und gedemütigt hatte, keinen größeren Gefallen tun, als ihn aus der Welt zu schaffen. Ein Tyrannenmord war immer legitim.

Gegen Mitternacht kam Angela von ihrer Theatergruppe nach Hause, und sie verloren kein Wort mehr über das, was sie sorgsam geplant und einstudiert hatten. Nur in einem hatte Wiederschein umdisponieren müssen.

»Ich kann die Leiche nachher nicht bei uns im Weinkeller vergraben.«

Angela sah ihn ungläubig an. »Und warum nicht? Der Boden besteht doch nur aus Sand …«

»Ja, aber unter dem Sand liegt eine Eisenplatte, und da komme ich nicht durch. Wahrscheinlich ist es eine Art Wanne, damit das Grundwasser nicht eindringen kann. Oder vielleicht haben sie darunter auch ihre Goldbarren versteckt, was weiß ich. Jedenfalls kommt man da ohne Trennschleifer nicht weiter, und hätte ich den angeworfen, wären sofort Freddie, Gudrun und Matti zur Stelle gewesen.«

»Und nun?«

»Ich schleife Schulz aufs Nachbargrundstück und vergrabe ihn schräg unter der Hausplatte, dort wo die Garage hinkommt. Da gießen sie in den nächsten Tagen den Beton … Aber das alles spielt gar keine Rolle, alle haben Schulz höchst lebendig wegfahren sehen.«

»Gut, dann mach mal.« Sie küsste ihn und eilte dann ins Schlafzimmer hinauf, um mit bangem Herzen zu warten.

Wiederschein fühlte nichts mehr, er handelte nur noch wie ein lange vorher programmierter Roboter. Natürlich hatte Schulz sein Zimmer von innen zugesperrt, doch Wiederschein hatte das Schloss so präpariert, dass man die Tür trotz des drinnen steckenden Schlüssels mühelos und leise von außen öffnen konnte.

Schulz lag auf dem Rücken und schnarchte laut und ausdauernd, als Wiederschein eintrat, und so musste er gar nicht besonders vorsichtig zu Werke gehen. Das Display des Radioweckers leuchtete so hell, dass Wiederschein keine Mühe hatte, sich zu orientieren. Das Sofakissen lag genau an der Stelle, wo er es am Nachmittag platziert hatte. Wiederschein nahm es hoch, huschte zum Bett hinüber und presste es Schulz mit aller Kraft auf Mund und Nase. Dabei sprang er hoch, so als wolle er auf dem Kopf des Opfers einen Handstand machen, und vervielfachte damit den Druck.

Ehe Schulz auch nur ansatzweise realisiert hatte, was mit ihm geschah, war er schon erstickt.

Wiederschein beobachtete den Todeskampf seines Peinigers mit wissenschaftlicher Kühle und legte, als alles vorüber war, das Sofakissen an seinen alten Platz zurück. Dann verließ er mit dem Staubmantel, dem Borsalino und dem Autoschlüssel des Toten das Gästehaus, um alles zu seiner Frau nach oben zu bringen. Niemand hatte ihn gesehen, da war er sich hundertprozentig sicher. Die Laubach hatte nur den Eingang zum Restaurant im Auge, konnte ihn aber nicht beobachten, wenn er vom Gästehaus zur Villa lief und die Tür zum Souterrain benutzte. Und Freddie und Gudrun schliefen tief und fest, die hätte nicht einmal der Knall eines Düsenjägers aufwecken können.

Mit dem Vergraben der Leiche musste er sich sputen, denn im Osten begann es zu dämmern. Er schleifte Schulz aus dem Gästehaus. Das musste Spuren hinterlassen, aber da konnte er auf den nächsten Wolkenbruch hoffen, der alles wieder verwischen würde. Zu Hilfe kam ihm die Tatsache, dass die Bauleute vor ein paar Tagen, als ihnen der Betonmischer umgefallen war, seinen Zaun arg demoliert, aber noch nicht wieder geflickt hatten. So war das Loch, durch das er Schulz auf das andere Grundstück ziehen konnte, schnell geschaffen. Er rollte den Körper bis zum Rand der Baugrube und gab ihm einen kräftigen Stoß, sodass er die Schräge hinunterrutschte. Dann kehrte Wiederschein auf sein Grundstück zurück, um Schippen und Spaten zu holen. Es war viel schwerer als erwartet, eine ausreichend große Höhlung unter dem Fundament zu schaffen, doch gegen 3 Uhr hatte er den Toten ausreichend sicher verstaut. Eine weitere halbe Stunde benötigte er, um die Spuren seines Tuns zu beseitigen, so gut es ging.

Er brachte Spaten und Schippe, nachdem er sie vom hellen Sand der Baustelle gereinigt hatte, in seinen Geräteschuppen zurück und tauschte die Kleidung, die er immer trug, wenn er im Garten arbeitete oder sich als Heimwerker betätigte, gegen T-Shirt und Hose. Nachdem er das Gästehaus verschlossen hatte, konnte der letzte Punkt auf seiner Ablaufplanung abgehakt werden.

Der Himmel schien auf seiner Seite zu sein, denn kaum war er oben im Schlafzimmer angekommen, um seiner Frau Bericht zu erstatten, da begann es, fürchterlich zu schütten.

 

*

 

Freddie träumte gerade das, was er regelmäßig träumte: Dass er als Flusspferd im Becken des Berliner Zoos herumschwamm und von allen bestaunt wurde, als ihn das Getöse seines Radioweckers auffahren ließ. Die Uhr zeigte 3.50 Uhr. Er fluchte nach allen Regeln der Kunst, weil er annahm, das Scheißding hätte einen Defekt, bis ihm einfiel, dass er sich ja selbst die frühe Weckzeit eingestellt hatte, um dieses Arschloch von Schulz aus dem Bett zu holen. Der hatte behauptet, seinen Reisewecker nie zu hören. Aber das war alles Quatsch, reine Schikane, dessen war sich Freddie sicher.

Er hievte sich aus dem Bett und schlüpfte in seine Sachen. Die Morgentoilette konnte warten. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber dennoch holte er sich nasse Füße, als er zum Pferdestall hinüberlief, um Schulz zu wecken. Er fand das Gästehaus verschlossen, weshalb er sich damit begnügte, an die Tür zu klopfen und durch das Schlüsselloch zu rufen: »4 Uhr, Herr Schulz, aufstehen bitte!« Er horchte noch eine Weile hinein, und als alles ruhig blieb, riss er an der Klinke und rief: »Aufstehen, Herr Schulz, es ist Zeit!« Danach ging er zurück zum Haupthaus, um mit Gudrun in der Küche einen kleinen Plausch zu halten. Sie war dabei, Schulz das Frühstück zuzubereiten.

»Der Chef hat aufgeschrieben, was er kriegen soll.« Sie hielt Freddie den Zettel hin, den sie nicht richtig entziffern konnte. »Du, was ist denn Kaffi a für ’ne Sorte?«

»Mensch, Kaviar!«, rief Freddie. »Und hol den Puderzucker aus dem Schrank, den sollen wir ihm in den Arsch blasen, sagt Wiederschein.«

»Ehrlich?«

Freddie hörte gar nicht mehr auf zu fluchen. »Ohne diesen Schulz hätten wir heute bis 7 Uhr schlafen können. Dieser Armleuchter! Und nun wird er nicht mal wach.«

Als auf dem Flur Schritte zu vernehmen waren, hörten sie auf, über Schulz zu lästern, doch es war Wiederschein, der nahte.

»Bei dem Mistwetter kann ja keiner schlafen!«, stöhnte er. »Guten Morgen allerseits! Sitzt mein lieber Onkel schon am Kaffeetisch?«

»Der is nich wachzukriegen gewesen«, antwortete Freddie.

»Geh und sieh nach, er ist am Ende wieder eingeschlafen. Und sag ihm, sein Kaffee würde kalt … Aber nein, lass nur, er wird schon von selbst kommen.«

Und richtig, zehn Minuten vor 5 Uhr kam Schulz aus dem Gästehaus, wichtig mit Staubmantel und Borsalino, und strebte in ziemlicher Eile zur Straße, so schnell, dass der Koffer, den er hinter sich herzog, auf und ab hüpfte und mächtig lärmte.

Freddie und Gudrun, die seinen dramatisch inszenierten Abgang vom Küchenfenster aus verfolgten, wollten ihm hinterhereilen, einmal, um ihm zu helfen, und zum anderen, um vielleicht trotz aller Polterei ein sattes Trinkgeld einzustreichen, doch Wiederschein verstellte ihnen den Weg.

»Lasst ihn! Wir hatten gestern Abend Zoff, und da … In dieser Stimmung macht er nur alle zur Sau, ich kenne das. Es reicht, wenn wir auf die Terrasse gehen und winken.«

Das taten sie dann auch und sahen gerade noch, wie Schulz das Gartentor, das ihn irgendwie geärgert haben musste, wütend ins Schloss warf und seinem genau gegenüber geparkten Porsche entgegenstrebte. Da der Wind noch immer kräftig wehte, musste er sich seinen Borsalino mit der freien Hand festhalten. Zudem hatte er den Kragen seines Mantels hochgeschlagen.

Pfarrer Eckel, der ein Frühaufsteher war, kam mit seinem Hund vorbei, grüßte kurz und staunte über den frühen Aufbruch.

»Gute Fahrt!«, rief Wiederschein. »Und viel Erfolg oben in Rostock.«

Schnell startete Schulz den Wagen und fuhr laut hupend davon.

Wiederschein, Freddie, Gudrun und Pfarrer Eckel winkten ihm so lange hinterher, bis er um die Ecke gebogen war und Kurs auf Oranienburg genommen hatte.